1. Brief: Alexandria (B)

Vor neun Uhr waren wir an Land und machten uns auf den Weg zum Großen Platz (1) – im Omnibus, denn es war schon zu heiß zum Gehen. Um zehn Uhr hat uns Mr. Gilbert (2) in unserem Innenhof besucht, er hat uns schon einen Janitschar angeheuert (der alles für uns tut) und uns alles gegeben, was man sich wünschen kann. Nachdem wir unser Gepäck vor den umher eilenden Eingeborenen gerettet hatten, baten wir als erstes unseren Janitschar, Ali – eine sanftmütige und doch respekteinflößende Erscheinung (ich wage kaum, ihn anzusprechen) –, uns den Weg zu den Bädern zu zeigen.
Nach einem langen Marsch kamen wir zu einer Pforte, durchschritten eine Allee aus Dattelpalmen, Bananenstauden und Petunien, überdacht von einem Gitter, und erreichten ein langes, niedriges Gebäude mit römischen Thermen und niedrigen Bogengängen (gegen die Hitze), die miteinander verbunden sind. Ägypter saßen dort und verzehrten ihre Mahlzeit aus Obst. Sie gaben uns jeweils ein Stück prächtiger ägyptischer Seife, eingewickelt in Palmenwedel, damit wir uns waschen konnten – alle europäischen Waschgelegenheiten sind nichts gegen diese Palmenwedel.
Und in dem verzauberten Garten war es wie in Tausendundeiner Nacht. Mir war, als seien wir im Großen Gewächshaus des Chatsworth Park und uns würde, wenn wir die Pforten und all die prächtigen Pflanzen hinter uns ließen, kalte Luft entgegenschlagen und uns daran erinnern, daß alles nur ein Traum gewesen war. Aber so war es nicht. Als wir zurückkamen, war der table-dʼhôte mit Bananen, Datteln, Apfelsinen und Zitronen gedeckt – ich hatte noch nie einen so schönen Tisch gesehen –, und ein majestätischer Ägypter bediente uns; Frauen sahen wir nicht. Dann gingen wir in die Kirche – eine kleine, ruhige, feierliche anglikanische Kirche – und hinterher zeigte Mr. Winder (3), der Pfarrer, uns den Garten der Armenier. Diese Armenier haben immer so etwas Poetisches und Geheimnisvolles an sich. Stellt Euch eine Kirche inmitten von Alleen und Palmen vor, beladen mit goldenen Früchten, die sich in den Wald erstrecken. Datteln, Begonien, Oleander, Kakteen und Bananenstauden bilden das Unterholz. In der Mitte steht ein großer Brunnen, auf dessen Rand eine Gruppe schöner ägyptischer und smyrniotischer Frauen sitzt, und im Hintergrund prangt ein strahlender Sonnenuntergang. So endete mein erster Tag im Orient – ein echter Sonntag voller Ruhe und Freude.

Anmerkungen der Übersetzerin:
1: Der heutige Tahrir-Platz in Alexandria, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Platz in Kairo.
2: Mr. Gilbert: Vorname und Lebensdaten nicht ermittelbar.
3: Mr. Winder: Vorname und Lebensdaten nicht ermittelbar.

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