1. Brief: Alexandria (I)

Ich wünschte mir so sehr, eine Moschee von innen zu sehen, wo meine Mitmenschen ihre Gottesdienste abhalten, daß Mr. Gilbert gutmütig zustimmte, obwohl er sagte, das habe es in Alexandria, wo die Mohammedaner fanatisch sind, noch nie gegeben. Ich bin froh, daß ich es getan habe, obwohl ich mich noch nie im Leben so unbehaglich gefühlt habe. Wir mußten ägyptische Kleidung anlegen – zunächst ein riesiges blaues Seidentuch (man steckt den Kopf durch ein Loch in der Mitte), dann ein breites weißes Tuch aus Baumwolle – man legt es über die Nase wie den Futtersack eines Pferdes und befestigt es mit einem steifen Posamentband, das zwischen den Augen, über und hinter dem Kopf verläuft wie ein Halfter –, ein weißer Schleier und zuletzt kommt das schwarze Seidengewand. Er wird mitten auf dem Kopf befestigt und hat zwei Reifen an beiden Enden, durch die man seine Arme und Beine steckt, um das Ganze zusammen zu halten. Man atmet nur durch die Augen – eine halbe Stunde länger, und es hätte eine Hirnhautentzündung zur Folge gehabt.
Mit der strengen Anweisung, nicht unsere Hände zu zeigen, machten wir uns in diesem Aufzug auf den Weg, begleitet vom Janitschar des Konsuls, dem er seine Arbeitskleidung abgenommen hatte, damit er nicht erkannt wurde. Der Konsul folgte in kurzem Abstand, ließ aber Mr. Bracebridge auf der Straße nicht mit uns sprechen und blieb die ganze Zeit in der Nähe der Moschee, so lange wir uns darin aufhielten, weil er Ärger befürchtete. Wir stiegen die Treppe hinauf, vorbei an dem großen steinernen Becken von Bethesda, um das alle Moslems knieten, um sich für das Gebet die Arme und Gesichter zu waschen, denn es war erst gegen Mittag, vorbei an einer Schule, in der die Jungen den Koran lernten (wobei sie die ganze Zeit vor und zurück schwankten), und waren endlich in der Moschee.
Ihr wißt ja genau, was eine Moschee ist – Arkaden und Fußböden mit Teppichen, eine Nische in Richtung Mekka, in dessen Richtung sich die Gläubigen wenden. Eine Kanzel aus herrlichem Schnitzwerk, außerhalb unserer Sichtweite eine Galerie, die Frauen betreten dürfen, aber nur am Abend eines Feiertags – und auch nur alte Frauen. Die Moschee war voll, die Leute scharten sich um uns, lachten und zeigten mit dem Finger. Ich fühlte mich so erniedrigt, weil ich wußte, wofür sie uns hielten und was sie über uns dachten. Ich kam mir vor wie der Heuchler aus Dantes Hölle, der die Bleikappe trägt – es war die Hölle für mich.
Ich war mir nicht mehr sicher, ob ich überhaupt eine Christin war, und bin seit diesem Moment unendlich dankbar, eine zu sein. Diese Viertelstunde  führte mir vor Augen, was es heißt, eine Frau in diesen Ländern zu sein, in denen Christus uns nicht aufgerichtet hat. Gott stehe ihnen bei, denn sie führen ein hoffnungsloses Leben. Ich war froh, als es vorbei war.
Trotzdem blieb bei mir nach dem Besuch der Moschee ein schönes Gefühl zurück. Σ war frappiert von der fehlenden Ehrerbietung. Einige beteten, aber einer flocht Körbe, ein anderer erzählte einer Gruppe von Zuhörern, die um ihn herum saßen, Märchen aus Tausendundeiner Nacht – und andere schliefen. Ich bin viel schockierter von der fehlenden Andacht in Londoner Kirchen.
Es ist schön, einen Platz zu sehen, zu dem jeder Mann gehen kann, an dem er seine Ruhe hat und niemand ihn kritisiert oder ihm Angst macht. Hier finden die Obdachlosen ein Zuhause, die Müden Entspannung, die Fleißigen Muße – wenn ich hätte sagen können „ein Platz, zu dem jede Frau gehen kann und ihre Ruhe hat“, wäre das Gefühl vollkommen gewesen – jedenfalls dann, wenn ich an die Straßen von London und Edinburgh denke, wo es kein Fleckchen Erde gibt, an dem sich eine arme Frau einen Moment ausruhen kann. Die Moschee wirkt religiöser, sie ist ein besserer Ort zum Beten – vielleicht nicht besser als der Petersdom, aber besser als St. Paul's.
Wir erklommen das Minarett. Der Muezzin war dort und rief in einem lauten, monotonen Singsang zum Gebet. Die Versunkenheit eines Moslems bei seinen Gebeten ist unbegreiflich – sei es an Bord eines Schiffes mitten im Sturm, sie ändert sich nicht; wenn die Stunde kommt, fällt der Moslem auf die Knie und ist für fünf Minuten für seine Umwelt unerreichbar. Der Tod kann kommen und wird ihn nicht unterbrechen, sogar die Ernte kann kommen und wird ihn nicht stören. Die Christen sprechen es aus und lachen darüber, aber man kann nicht lachen, wenn man es sieht.
Die muslimische Religion erreicht die Menschen über ihre Leidenschaften, sie befriedigt all diese und bietet ihm Genuß als Lohn. Die christliche Religion erreicht ihn über Buße und Selbstverleugnung. Das scheint der fundamentale Unterschied zu sein; ansonsten hat die mohammedanische Religion viel Gutes. Die Wohltätigkeit ist grenzenlos, und es ist keine herablassende Wohltätigkeit, sondern eine auf Augenhöhe. Wenn ein Mann zu einem anderen „Inshallah“ (in Gottes Namen) sagt, darf der andere sich an seinen Tisch setzen und alles teilen, was er besitzt, und keiner wird es ihm verweigern. Der Bettler wird dabei die größte Würde an den Tag legen. Es herrscht keine Gier. Nie wird einem etwas Wertvolles gestohlen, man muß nicht die Tür schließen – vielleicht verschwindet eine Kleinigkeit, aber sonst nichts. Wie könnte es auch anders sein in einem Land, dessen Religion der Genuß ist?

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