11. Brief - Anachoreten (B)

Es war genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte – eine solche Übereinstimmung von Wirklichkeit und vorausgegangener Phantasie, daß ich es kaum glauben kann. Zwei Mal hatte ich dieses Gefühl – einmal hier und einmal, als ich die Kapelle von Michelangelos Pietà im Petersdom gesehen habe. Tief unter dem Betrachter liegt Assiut, die Hauptstadt von Oberägypten, und sieht aus wie die Art Stadt, die Tiere bauen würden, wenn ihnen die Erde gehörte, wie es der Fall war, bevor der Mensch erschaffen wurde – eine Ansammlung von Lehmhaufen, außer dort, wo die dreizehn Minarette in den Himmel ragen. Ich hatte Mungo Parks und Bruces Schilderungen eines afrikanischen Dorfes gelesen und mir eingebildet, sie zu verstehen, aber dieses Elend spottet jeder Beschreibung. Dies war die Art des wilden Lebens, während in jenen Höhlen des Felsens die Heiligen von Thebais standen, jeder in meiner Phantasie, vor der Tür seiner engen Zelle, wie die Typen des geistlichen Lebens, und Alexandria war weit weg, wo in der neoplatonischen Schule, diese Männer, die platonischen Christen, es sich wahrscheinlich als das Vorbild des intellektuellen Lebens vorgestellt hatten. Dort hatten sie die Höhepunkte epikureischer Verfeinerung gesehen, intellektuellen Luxus, wo Genuß eine Wissenschaft wurde – und man sieht, wie natürlich die Gefühle dieser Männer aus einer solchen Vergangenheit entstanden – wie ihnen der Gedanke kam, dass Gebet, Meditation und Selbstverleugnung das einzig Gute seien, nachdem man ihnen erzählt hatte, daß Vergnügen das höchste Ziel sei. (Ein riesiger Klumpen Lehm, den wilde Bienen umsummten, hing vor der Tür einer dieser Grabkammern. „Seine Speise aber waren Heuschrecken und wilder Honig.“ Alexandria, Assiut und Thebais – was für ein Anblick! Unzählige Köpfe und Schwänze mumifizierter Schakale liegen wüst herum – denn Lycopolis war die heilige Stadt des Anubis, eines schakalköpfigen Gottes. Er war der Gott des Todes in seinem guten Sinn – Tod im Sinne von Wiedergeburt und Auferstehung. Es war seine Aufgabe, den Sterbenden beizustehen, die entfliehende Psyche vom Totenbett zu seinem Vater Osiris zu bringen, dessen Namen die neugeborene Ψυχη dann annahm. Unter diesem Namen betrat er das Paradies. Anubis war auch der Gott der Zeit. Aber nun lag die Zeit selbst tot da und die Mumien, die so umsichtig seinem Schutz anvertraut worden waren, lagen wild durcheinander zwischen den Felsen. Es war seltsam, diese Dinge, die einst so verehrt worden waren, daß man sogar Leben – das von Tieren – für sie geopfert hatte, so schlecht behandelt zu sehen. Nicht nur den mumifizierten Schakalen, sondern auch dem Skelett eines Menschen, einer jungen Frau, wurde vor 5000 Jahren so viel Achtung entgegengebracht. Heute reißen unsere kindischen Araber sie in Stücke und werfen sie sich gegenseitig an den Kopf. Jetzt macht es ihr ja nichts mehr aus, aber ich konnte es trotzdem nicht ertragen – ich dachte weniger an sie als vielmehr an die Menschen, die sie vor 5000 Jahren geliebt hatten – und wir begruben sie anständig außer Sichtweite, im Sand und türmten einen Steinhaufen auf. Es nützte nur wenig, denn fünf Minuten später fanden wir das Skelett ihres Mannes. Aber es hat nichts Schmerzliches – die Vorstellungen der Ägypter vom Tod waren so fröhlich – es war für sie so ganz und gar das Tor zum Leben, daß man das Gefühl hat, der Gott des Todes hätte sich über seinen eigenen Tod freuen müssen, da er nun endlich zu seinen Anbetern kommen würde. Die Höhlen werde ich nicht beschreiben – wer kann sich schon nach einer bloßen Beschreibung etwas vorstellen?

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