1. Brief: Alexandria (E)

Es gibt hier nicht viel zu sehen, nichts außer dem ewigen Gefühl, im Orient zu sein, die östlichen Farben und die Atmosphäre des Morgenlands. Am Gedenktag Unserer Lieben Frau in Jerusalem gingen alle Kinder aus der Klosterschule der Vinzentinerinnen zu einer Kindermesse und sangen – es war so schön! All die Trachten, die der Levantiner, der Smyrnioten, der Malteser, der Ägypter – Menschen aller Nationen und Sprachen waren vereint in der Anbetung Gottes. Auch viele der Mütter waren anwesend.
Die Felder sind natürlich in diesem reichsten Land der Erde unbestellt. Wenn der Nil nicht alle Arbeit täte, wäre die Armut, die ohnehin schon groß ist, von ungeheurem Ausmaß. Aber die Ägypter sind sehr bescheiden – sie brauchen fast nichts zum Leben.
Wenn sie nicht so ein friedliches Volk wären, könnte die Regierung keinen Augenblick weitermachen. Jeder Kadi gewährt dem Meistbietenden das gewünschte Urteil, allen scheint es erlaubt zu sein, jeden anderen auspeitschen zu lassen, und kein Konsul, der etwas Menschlichkeit hat, bringt einen Verbrecher zur Polizei, denn niemand zählt die Peitschenhiebe – wenn fünfzig angeordnet wurden, sind mehrere Leute da, um sie zu verabreichen, und er kann ebensogut zweihundert bekommen und daran sterben. Die Steuerlast ist gewaltig. Jede Zunft, jeder Handel, alle Arbeiter, Gärtner etc. wählen ihren Scheich. Diese Scheiche sind eine Art gehässiger Vermittler. Sie müssen den ganzen Betrag, den ihre Zunft verlangt, an die Regierung zahlen; deshalb pressen sie natürlich das Letzte aus den Leuten heraus und noch mehr, denn Hassans Sieb ist klebrig, und ein Stück Gold bleibt für ihn hängen, genau wie für jeden Funktionär im ganzen Land. Er darf nach Belieben die Bastonade verhängen, um die Steuern einzutreiben, und sobald er in Amt und Würden ist, wird er zum Tyrannen.
Wie schwer ist es, zu glauben, daß auch dieses Volk auf dem Weg zum vollkommenen Leben ist! So schwer, wie es den Juden fiel, zu glauben, daß der Menschensohn, den sie am letzten Sonntag verehrt hatten, am Freitagmorgen, in Lumpen gehüllt und mit Schmutz bedeckt, verspottet und ausgepeitscht, der Sohn Gottes war. Aber auch diese schmutzigen Menschensöhne sind alle die Söhne Gottes und auf dem Weg zur ewigen Wahrheit. Die Juden zweifelten an seinem Wort und kreuzigten ihn. Wenn wir an seinem Wort, nach dem auch diese armen erniedrigten Araber Gottes Söhne seien, zweifeln, kreuzigen wir ihn erneut. Pilatusʼ Zweifel, daß es eine Wahrheit gäbe, zerstörte ihn. In dem Augenblick, in dem ein Mensch fragt „Was ist Wahrheit?“, muß er straucheln und stürzen. Pilatus konnte natürlich nicht wissen, ob Christus Gott oder ein Volkstribun war, aber er mag gewußt haben, daß er keinen unschuldigen Mann verurteilen sollte.
Ibrahim Pascha ist auf seinem Weg zur ewigen Wahrheit gestorben wie ein Hund. Niemand trauerte um ihn. Die Politik dieses Landes ist sogar noch schlimmer als die in Europa, aber ich nehme an, daß es in Philoe niemanden gibt „bei dem, der in Philoe schläft“.

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