1. Brief: Alexandria (J)

Aber dann – die Frauen! Der riesige Harem besteht aus zweihundert oder dreihundert Ehefrauen und vier oder fünf Kindern, aber sie ist weder Ehefrau noch Mutter, denn sie darf sich nicht in Anwesenheit ihres Sohnes hinsetzen, ihr Mann ist ihr Herr und Meister und ihre einzige Beschäftigung besteht darin, sich schön zu machen und die anderen zu übertreffen. Seine wirkliche Ehefrau wird sie nur, wenn ihm danach ist – sie bekommt ein Papier, auf dem steht, daß er sie für eine bestimmte Summe, ein paar Piaster, wegschicken kann. Dann ist sie zufrieden in dem Glauben, daß ihr das Tor zum Paradies offensteht – ihr, der Frau, die mehr zu leiden hat als der Mann, sowohl im Herzen als auch im Geist und Körper. Die einzige Beschäftigung der Haremsdamen – außer der Verschönerung – ist Politik, und jede Politik wird von ihren Intrigen bestimmt. Jeder Mann geht mit Geschenken zu ihnen.
Aber von Artim Bey bis hinunter zum niedrigsten Kadi wird alle Politik mit Geld gemacht. Der Kadi (der Richter) bezahlt die Regierung für seinen Platz, der Angeklagte bezahlt den Kadi für sein Urteil, der Mufti (der Anwalt) bezahlt die Regierung und umgekehrt. Englischen Beamten werden immer Geschenke angeboten, und einem Kadi klarzumachen, daß in England Richter von der Regierung bezahlt werden, um Recht zu sprechen, wäre nicht schwierig, sondern unmöglich. Was Besitz angeht, so weiß jeder, daß er bei dem Anschein, welchen zu haben, von der Regierung besteuert und geplündert wird, und ein Araber wird eher jede Zahl an Peitschenhieben erdulden, als zu gestehen, daß er etwas besitzt. Ein Mann, der in seinem Zelt anständig gekleidet ist, wird in die Stadt gehen wie ein Bettler. Wenn er in Verdacht gerät, etwas zu haben, wird er ausgepeitscht, und ich weiß, was oft passiert – ein Herr sagt zu seinem Diener: „Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast deine Steuern bezahlt? Das hätte ich getan, statt mich auspeitschen zu lassen!“ Und der Mann öffnet den Mund und zeigt das Geld, das er darin versteckt hat – er hat lieber die Schläge ertragen, als es aufzugeben. Den Arabern würde es blendend gehen, wenn sie nur irgendeine andere Regierung hätten als die gegenwärtige. Sie lassen sich lieber fast zu Tode prügeln, was ständig vorkommt, als aufzugeben.
Auf dem Sklavenmarkt hier werden erwachsene Nubierinnen für zwei bis neun Pfund verkauft; sie werden im Kindesalter entführt. Manchmal schlägt ein Araber seine Frau, bis sie stirbt. Die Schwestern von Vincenz de Paul haben solche Fälle erlebt.
Aber der Beduine ist ein viel vornehmerer Mann. Er trinkt weder Kaffee noch Alkohol, sondern nur Milch, und raucht nie. Versuchst Du, ihn zu schlagen, wird er es noch dem letzten Mitglied Deiner Familie nachtragen (die Araber würden nicht einmal weglaufen). Nennt man den Beduinen einen Fellachen, wird er antworten: „Sag das lieber nicht noch einmal.“ Ein Schwarzer sagte gestern zu uns: „Son Berber io“, um mehr Bakschisch zu bekommen.
Mohammed Ali hat immer seine Maßnahmen durchgesetzt, was auch immer die weisen Männer oder Korangelehrten sagten. „Es tut mir leid“, sagte er immer, „wenn sie nicht zufrieden sind, aber es muß getan werden.“ Abbas ist der Sklave seines Aberglaubens, und jetzt herrschen die Mullahs oder Priester unumschränkt.

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