6. Brief - Die Schönheit des Nils

Es gibt Inseln und Landzungen und Bäche, genau wie am Meer, und manchmal, wenn der Wind gegen den Strom bläst, ist es nicht mehr der gemächliche Nil, sondern ein sehr stürmischer See, mit weißen Pferden und turbulenten kleinen Wellen. Aber er ist immer schön. Und im allgemeinen verdankt er die Gemächlichkeit den Farben – es sind nur zwei oder drei Brauntöne, die sich allerdings genug abwechseln, dass es nicht langweilig wird – die braune Wüste, die braunen Pyramiden, der braune Nil. Bisher scheint nur wenig zu wachsen außer Mais.
Dies ist ein sehr dummer Brief, meine lieben Freunde. Aber in einem Dahabieh überkommt einen eine Art Stumpfsinn. Wenn man auf dem Diwan liegt und langsam dahintreibt und das Ufer sachte an einem vorüberzieht, fühlt man sich, als würde man von einem unbekannten Fluß an eine unbekannte Küste getragen werden und alles, was man je kannte, für immer verlassen – ein geheimnisvolles Gefühl überkommt einen, als wäre es der Weg in eine andere Welt, die unsichtbare Reise durch das Tal – nicht des Todes, sondern wie sich die Vorväter den Tod vorstellten, ein Ufer, an dem alles, die man kannte, als Schatten erscheinen. Man fühlt sich, als sei man in der Macht unsichtbarer Geister, die einen von allem, das man je gesehen hat, wegbringen und in das ferne Land entfernen.
Seit Kairo haben wir kein Haus mehr gesehen, oder auch nur ein anständiges Gebäude. Die seltsame Wirkung der Atmosphäre läßt die Gestalten am Ufer gigantisch aussehen. Man verliert jedes Gefühl für Entfernung. Man scheint auch alles Gefühl für Identität zu verlieren, und alles wird übernatürlich.
Aber ich muß diesen Brief jetzt beenden. Liebste Leute, lebt wohl. Eure „Wildeselin in der Wüste“, aber immer die Eure.
Die klaren Umrisse der Formen sind das, was einen in Ägypten am meisten fasziniert. Sogar die Wolken haben bestimmte Formen und die Vögel haben keine runden Köpfe, sondern kleine Federbüschel, die sie eckig aussehen lassen.
Zweiter Adventssonntag, 20 Meilen vor Miniyeh.

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