8. Brief - Beni Hasan (D)

Aber der interessante Teil dieser bemalten Grotten ist die nüchterne Darstellung aller Einzelheiten des täglichen Lebens – ihre Kleidung, Essen, Arbeiten, Gehen, Schreiben, Heilen, Reden, Tanzen, ihre Krankheit und Gesundheit, ihre Häuser von innen und außen, ihre Geschäfte und ihr Musizieren, ohne einen einzigen Versuch, zu komponieren, ohne Gefühl für das Malerische oder Kunst, ohne eine Idee, ohne ein Streben nach dem Ideal, dem Übernatürlichen. Ich sah nichts außer Darstellungen des toten Mannes zu Lebzeiten, seiner Tätigkeiten und seiner Lebensumstände, der Vollkommenheit der Zivilisation und Organisation des täglichen Lebens, der mechanischen Künste und der schönen Künste. Nichts könnte frappierender sein als der Gegensatz zwischen dem sixtinischen und dem ägyptischen Künstler – der eine ganz Ideal und Streben, voller Verachtung für Kunst und Erde, und katapultiert sogar die Propheten der Erde zurück in den Himmel, aus dem sie kamen, aber wild, übertrieben und oft unnatürlich – der andere hält sich mit peinlichster Genauigkeit an die Wirklichkeit des Lebens – so daß es aus der Distanz von 4000 Jahren für uns von unschätzbar größerem Wert ist, weil es uns einen Einblick in seine privaten und alltäglichen Gewohnheiten gibt, wohingegen sein Ideal, wenn er es uns in seinen Göttern zeigt, die nüchternste Realität ist – nur die verschönerten Attribute von Tieren. Ich glaube, die Ägypter waren sehr wie die englischen Pfarrersgattinnen von heute, die aus dem Alten Testament zitieren und Musselingardinen nähen. Eine der verfallenen Kammern mit ihren lotusüberwucherten Säulen, Gängen und dämmerigen Gewölbe war sehr geheimnisvoll und spannend, mehr durch das, was nicht da war, als durch das, was da war. Aber ich glaube, die ganze Wirkung dieses Blickes durch die magische Laterne auf das Alltagsleben von vor 4000 Jahren war seltsamer und übernatürlicher (für den eigenen Geist), als wenn es weniger reales, kleinliches Leben gewesen wäre. Danach wird man zustimmen, dass man kein besserer Mensch wird, wenn man weiß, ob es die Züge von Gad oder Dan waren – man will nur wissen, daß Josef wirklich gelebt hat, daß er ging, wo man geht, daß sein Boot viele Male den alten Fluss hinuntergefahren ist, wenn er seinen Schwiegervater in Heliopolis besuchte, und ob sein Sarg etwas weiter rechts oder etwas weiter links stand, spielt kaum eine Rolle. Als wir aus dem Gewölbe in das grelle Sonnenlicht kamen, bot sich uns ein schöner Anblick – eine kleine Gruppe unserer Seeleute in blauer Uniform und mit Tarbusch saß am Eingang (eine solche Gruppe können Europäer, die auf Stühlen sitzen und Hosen tragen, nie bilden), und in der Tiefe lag das Tal des Nils.

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